Warum braucht es einen neuen Eid?

Warum braucht es einen neuen Eid?

 

Wer mit einer historischen Blickrichtung nach dem weltweit bekanntesten Eid fahndet, wird leicht fündig. Es ist der „Eid des Hippokrates“, der das Handeln (und das Unterlassen) der Ärzteschaft jahrhundertelang geprägt hat. Die novellierte „Deklaration von Genf des Weltärztebundes“ (Chicago 2017) stellt die heute geläufigste Eidesformel dar. Wie kein anderer Beruf bewegt sich die ärztliche Tätigkeit entlang einer hochsensiblen Grenze – entlang der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit, die nicht selten eine Grenze zwischen Leben und Tod darstellt. Das Bewusstsein, in einem solchen Kontext über elementare moralische Grundsätze verfügen zu müssen, war immer lebhaft vorhanden. In kaum einem Beruf hat der Begriff der „Verantwortung“ eine solche alltägliche Evidenz wie in dem Bereich der ärztlichen Tätigkeit. Deren traditionelle „Ehre“ war nicht zuletzt mit der Verpflichtung verbunden, gemäß einigen fundamentalen moralischen Prinzipien zu handeln. Beruf und Berufung – die Berufung zu helfen – waren verschwistert, Professionalität und Humanität bildeten die zwei Seiten einer Medaille.

In letzter Zeit wurden Ärztinnen und Ärzte jedoch nur noch selten vereidigt. Der „Eid des Hippokrates“ war und ist in Teilen tatsächlich veraltet. Aber auch die „Deklaration von Genf des Weltärztebundes“ führt in der Praxis eher ein Schattendasein. Zwar existieren überaus aufwendige und detaillierte Standesrichtlinien, deren Notwendigkeit unbestritten ist, aber das Wissen um den Kernbestand des medizinischen Ethos – des Ethos des Helfens – findet kaum mehr eine Ausprägung. Ein Akt feierlicher Selbstverpflichtung auf dieses Ethos, wie ihn eine Eidablegung darstellt, war bis vor kurzem marginalisiert. Was ist geschehen, dass die ärztliche Eid-Tradition in Vergessenheit geraten konnte? Warum war die Berufsmoral – das ärztliche Ethos – zu einer „Attrappe“ (Niklas Luhmann) geworden?

Das hat in erster Instanz mit einer Entwicklung in der Moderne zutun, die man „Professionalisierung“ nennt. Diese findet in einer Umgebung statt, in der die traditionellen Berufe des Helfens neu programmiert wurden: Diese sind Kriterien der Effizienzsteigerung und der Wirtschaftlichkeit und somit der Angleichung an marktförmige Prozesse unterworfen worden. Dort, wo Waren produziert werden, stellt der Markt das angemessene Milieu für diese Vorgänge dar. Aber in den Berufen des Helfens hinterlässt diese Transformation tiefe Spuren: Angesichts der betriebswissenschaftlichen Erwartungen und der politischen Weichenstellungen scheint das ärztliche Ethos zunehmend bedeutungslos, ja gar machtlos. Moralische Überzeugungen und alltagspraktische Zwänge beginnen zu kollidieren. Es zeichnet sich der vielfach beklagte Sinnverlust genuin ärztlichen Tuns angesichts der Diktate gewinnorientierter Maximen ab. Gewiss benötigt das Gesundheitswesen eine solide wirtschaftliche Basis, denn ohne letztere hätte das ärztliche Handeln keinerlei stabile Grundlage. Aber eine solche Grundlage verschwindet ebenso, sobald der Primat betriebs- bzw. privatwirtschaftlichen Handelns sich in das Gesundheitswesen zu verankern beginnt. Dies ist längst geschehen.

Keineswegs pathetisch mutet in diesem Zusammenhang die Aussage von Niklas Luhmann an, die „Nächstenliebe“ nehme nun „die Form einer Verweisung an“.  Das Ethos des Helfens droht nämlich abhanden zu kommen bzw. andauernd frustriert zu werden. Der Patient oder die Patientin wird zu einem Gegenstand erfolgreichen wirtschaftlichen Operierens, die Ärzteschaft zu einem Faktor ökonomischen Kalkulierens und erhofften Prosperierens. Das Vertrauen in die Unabhängigkeit von Diagnostik und Therapie geht verloren, sobald der Verdacht sich hegt, dass das genuin medizinische Motiv mit finanziellen Motiven kontaminiert sei. Dieser Ökonomisierung des Gesundheitswesens muss widerstanden werden. Die Patienten müssen zurück in das Zentrum des ärztlichen Blicks gerückt und die Priorität medizinischen Handelns angesichts monetärer Maßstäbe verteidigt werden. Es gilt, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen und nicht zuletzt auch die Freude am Beruf.

Der „Schweizer Medizin Eid“ stellt ein wichtiges Instrument zur Verteidigung des medizinischen Ethos in den heutigen Umständen seiner zunehmenden ökonomischen Aushöhlung dar. Er stärkt den Zusammenhalt und die Solidarität der ärztlich Tätigen. Dieser Eid sollte als eine moralische Verfassung für Ärztinnen und Ärzte betrachtet werden, in der die für ihren Beruf unerlässlichen Tugenden genannt sind. Seine Ablegung stellt eine Selbstverpflichtung angesichts der Ideale des Berufsstandes dar und inkorporiert die unter Eid Gestellten in die Solidargemeinschaft der medizinischen Eid-Genossen.